„Gedanken zum Tag der Befreiung des KZ Buchenwald“

Für Dich

Abtreten!

Die Frauen wenden sich um. Müde, völlig erschöpft schleppen sie sich in die Warteschlange um Essen zu fassen. Ein Schöpflöffel Suppe in den Blechnapf und ein – mehr oder weniger großes – Stück Brot. Wie jeden Abend.

Langsam, Schluck für Schluck löffelt Hannah die dünne Krautsuppe. Die wenigen kleinen Kartoffelstückchen die verloren darin schwimmen schiebt sie an den Rand. Das Beste hebt sie sich auf bis zum Schluss. Das Brot lässt sie in ihrer Jackentasche verschwinden. Morgen, auf dem Weg zur Arbeit wird sie es heimlich Samuel zustecken. Der Junge, ihr Junge ist 16. Zuhause schon hatte er immer Hunger. Seit sie hier im Lager sind ist er völlig abgemagert. Die Schwerstarbeit im Steinbruch, die Schikanen durch die SS an diesem grauenvollen Ort voller Leid, Gewalt und Tod, das hat ihn völlig verändert. Sein Blick ist hart geworden. Sie erkennt ihn kaum wieder, ihren einst fröhlichen, unbeschwerten Sohn. Wenn sie die Augen schließt fühlt sie ihn als dralles Baby an ihrer Brust. Sie spürt die zarte, weiche Haut an ihren Wangen. Sie atmet seinen unverwechselbaren Duft. Das darf nicht umsonst gewesen sein! Es zerreißt ihr das Herz. Ihre Augen werden feucht, doch Ihr Körper strafft sich.

Und ihr Entschluss steht fest.

Heute kann sie ihm leider nichts geben. Sie beißt die Zähne zusammen. Sie hat selbst nichts. In einer Ecke des Apell-Platzes wurde ein riesiger Drahtkäfig errichtet, ein extra Lager im Lager. Dort hat die SS Häftlinge aus dem Osten zusammengepfercht. „Untermenschen“ wie sie sagen. Juden. Unter freiem Himmel, ohne feste Unterkunft, ohne Essen, ohne Latrinen müssen sie dort vor aller Augen dahinvegetieren. Manche weinen, flehen, schreien, viele liegen schon apathisch, sterbend auf dem Boden im Dreck zwischen Unrat, Exkrementen und Leichen. Lagerinsassen hatten Mitleid und wollten den Menschen helfen. Sie warfen ihr eigenes, weniges Brot über den Zaun. Das Bisschen, das sie hatten. Zur Strafe bekommt heute das ganze Lager einen ganzen Tag lang keinen Bissen Essen.

Nur die Affen im Zoo der SS-Angehörigen hinter dem Zaun werden auch heute gefüttert. Alle sollen es sehen. Die bekommen sogar frisches Obst.

JEDEM DAS SEINE – Der Leitspruch der Nazis prangt er über dem Tor. In großen roten Lettern. In Eisen geschmiedet. Die Häftlinge lesen es jeden Tag. Morgens, wenn sie zur Zwangsarbeit hinaus getrieben werden und abends, wenn sie in der Kolonne von Stockschlägen und wüsten Beschimpfungen begleitet zurückkehren.

Heute wird ihr schwindelig auf der Arbeit und sie kippt um. Fast hätte sie sich den Kopf blutig geschlagen. Die Kameradin hilft ihr auf. Die ist noch nicht so lange hier und hat noch mehr Kraft. Hannahs Herz rast. Mit angstvollem Blick schaut sie sich um. Doch die Wache hat nichts bemerkt. So ein Glück. Erleichtert atmet sie auf. Sie darf nicht auffallen! Sonst wird sie gleich selektiert fürs Gas.


Doch sie darf sich nicht in ihren Gedanken verlieren, nicht grübeln, nicht immer an Essen denken. Das macht nur hungrig. Sie muss weiter machen. Sie muss durchhalten. Ja, sie hat abgenommen. Ihre Brüste hängen wie Lappen an ihr herunter. Eine Regelblutung hat sie seit Monaten nicht mehr. Die dick geschwollenen Füße passen kaum noch in die zerlumpten Schuhe. Aber der beißende Hunger der Anfangszeit hat etwas nachgelassen. Sie schleppt sich durch den Tag. Sie muss, ja, sie will funktionieren. Apell, Arbeit, Essen fassen, schlafen. Tag für Tag für Tag.

Soll sie heute doch ihr Brot essen?

Nein, so viel Hunger hat sie gar nicht. Sie steckt es wieder ein. Für ihn. In dieser endlosen Nacht schläft sie kaum. Sie krümmt sich unter Bauchkrämpfen. Immer wieder quält sie sich hoch um sich auf dem Kübel zu erleichtern. Sie hat schrecklichen Durchfall. Mit letzter Kraft schafft sie es noch, sich zurück zu schleppen auf ihre Pritsche. Die Nachbarinnen haben sie schon an den Rand gedrängt, weil sie dauernd stört. Dann kommt das Fieber. Ihr Körper glüht. Und wirre Träume, schöne Träume entführen sie in eine andere Realität. Samuel als Kind lachend auf der Schaukel. Samuel stolz bei seiner Bar Mitzwa –Feier. Samuel wie er sie, seine Mutter herzlich umarmt. Und immer wieder kommt die Frage „Warum? Warum tun sie uns das an?“

Morgens schrillen die Sirenen. Die Frauen springen auf, hasten hinaus zum Apell. Hannah ist viel zu schwach um aufzustehen. Sie gibt der Kameradin das Brot. „Für Samuel“ flüstert sie ihr zu. „Sag ihm, mir geht’s gut. Er soll sich keine Sorgen machen. Morgen komme ich wieder.“

Als die Wache ihr Fehlen bemerkt und in die Baracke stürmt um sie zur Arbeit zu treiben ist Hannah bereits tot.

Samuel, der Junge, ihr Junge, überlebt.

Text: Ingrid Sondershaus, Mitglied im Fürther Bündnis gegen Rechtsextremismus und Rassismus, veröffentlicht in „Touché und andere Generationengeschichten“ Herausg. Carsten Böhn und Matthias Deigner, Baltrum Verlag 2021